Er saß da, starrte ins Nichts, schickte seinen Blick mit Schwert und Schild in den Kampf gegen verworrene Phantasiegestalten. Seine ungesunde Haltung war ihm nicht einmal bewusst, genausowenig würde er im Moment die Stimme seiner Vorgesetzten - aufgebracht durch das müde, unmotivierte Auftreten ihres Untergebenen - wahrnehmen können. Doch er war allein. Niemand war zur Stelle um ihn mit irdischen Waffen in die Realität zurückzuzerren.
Jakob - so sein Name, der ironischerweise an das Wort "Objekt" erinnerte, das exakt seinen derzeitigen Gefühlen über sich selbst glich - bemerkte einen tobenden Bären in den Augenwinkeln, der sich vor Schmerzen krümmte, nachdem ein - beinahe ungewollter - Schwerthieb ihm seinen rechten Oberarm zerschnitten hatte. Das Brüllen des Tieres klang in Jakobs Ohren zu real, als nur in seinen Gedanken zu existiert haben zu können. Aus dem Bär entwickelte sich plötzlich der braune Vorhang vor dem Fenster (das seit Wochen nach einer Reparatur schrie), der sich vom Wind in einen Tanz mitreißen ließ. Das Brüllen entstand direkt unter Jakob's dicken Pullover, der nicht einmal in diesem Büro gegen die sture Kälte schützte. Er hatte Hunger. Ein ziemlich reales Gefühl, der ihn daran erinnerte, doch noch am Leben zu sein.
Nach einem enttäuschtem Blick auf die Uhr (noch zu lange würde er in seinem Büro sitzen und warten müssen) und einem weiteren überforderten Blick zu dem riesigen unerledigtem Stoß stand er schließlich auf.
Er marschierte ein paar Runden in dem vier Zimmer kleinen Büro, überlegte hin und her. Als sich sein Magen wieder entnervt zu Wort meldete lenkte Jakob in Richtung Kühlschrank, der sich inmitten der kleinen Küche befand. Leer. Zumindest für seinen Magen war nichts vorhanden. Lediglich Klebstoffe verschiedenster Art mit wirren Bezeichnungen befanden sich gut gekühlt innerhalb des Winterkastens, obwohl es außerhalb sicherlich auch gereicht hätte bei dieser Kälte, dachte Jakob.
Nach dieser weiteren Enttäuschung schloß er die schwere Kühlschranktür. Wieder protestierte sein Magen ungeduldig gegen die Leere in sich.
Jakob wollte schreien. Irgendwo dagegen treten. Wie lange war er schon hier tätig? Zehn Jahre? Zwanzig? Seine Falten im Gesicht - wie Ringe in einem umgestürzten Baum - würden ihm vielleicht verraten, wie lange er hier schon ausharrte, hätte man diesem Büro einen Spiegel zur Verfügung gestellt.
Das Telefon schrie auf.
Jakob konnte nicht anders reagieren, als mit einem lauten Fluch, der die Erde erzittern ließ. Mit einem Satz landete er auf seinem Schreibtisch und stieß mit seinem rechten Fuß gegen das nervende Ding. Wenige Augenblicke später bog sich der Vorhang durch ein großes Loch in der Scheibe und das Telefon flog in die Kälte (obwohl es wahrscheinlich nicht kälter als im Büro sein konnte) und ließ die Mülltonnen vor der Hausmauer scheppern.
Der Tisch knarzte unter Jakobs Gewicht. Hastig sprang er herunter, kurz bevor der Tisch in sich zusammenbrach und den ordentlichen Arbeitsplatz mit allerlei pedantisch geordneter Büroutensilien in einen Müllhaufen verwandelte.
Er verließ das Büro. Es wurde allmählich Zeit, einen anderen Weg in seinem Leben einzuschlagen.
Und etwas zu essen.
Während er sein Büro verließ und die Tür nur hinter sich in den Rahmen warf, aber nicht absperrte, kreiste in seinem Kopf der Gedanke, ob eine sogenannte Midlife-crisis an seinem Gedankengang schuld sein könnte. Jedoch verscheuchte er diese absurde Denkerei wie eine lästige Mücke.
Hastig ließ er die Treppe hinter sich und öffnete die schwere Holztür, an deren Außenseite ein Hund und ein "Ich muß draußen bleiben!" auf einem schwarzen Schild abgebildet waren. Jakob wußte noch genau, wo er seinen Wagen geparkt hatte. Nämlich exakt am selben Platz, den er schon seit Jahrzehnten reserviert bekam.
Jedoch war weit und breit nichts von seinem Auto zu sehen, geschweige denn von denen der Mitarbeiter, die irgendwo in dem zurückgelassenen Gebäude ihr Dasein fristeten und für ihre Familien litten.
Statt dessen fror ein braunes Pferd in der zugeschneiten Straße, dort wo sein Vehikel hätte sich befinden sollen. Es atmete schwer. Wahrscheinlich schnitt dem armen Tier bereits die Kälte in seine Kehle.
Jakob war nicht einmal wirklich überrascht, sondern hielt nur eine Zehntelsekunde inne, ging aber sofort weiter und saß auf. Das Pferd schien ihn gewohnt zu sein, versuchte sich kein bißchen gegen Jakob zu wehren, wo doch der Anschein da war, dass sich beide Wesen noch nie gesehen hatten.
Gegenüber seines Bürogebäudes wuchs dasselbe Gebäude spiegelverkehrt aus dem Schnee. Der einzige Unterschied bestand in der Farbe - das eine Haus war weiß und das andere hellblau. Sonst waren sie sich absolut gleich.
Selbst das verwunderte Jakob nicht. Das Haus stand schon immer da.
Die Umgebung war vom Nebel verschluckt und gab die Sicht nur im Umkreis von wenigen Metern frei.
War er schon jemals geritten? Selbst wenn konnte Jakob sich nicht daran erinnern. Und doch ritt er los, als wäre Reiten sein liebstes Hobby.
Er ritt durch die Stadt, über breite Straßen und hinterließ verdutzte Gesichtsausdrücke (es gab nur wenige Reiter, die sich an Vorrangregeln hielten und zum Abbiegen die Hände ausstreckten).
Jakob mußte weit reiten um an sein Ziel zu gelangen - ein Supermarkt namens Merkur. Immer wieder zauberte der Name des Geschäftes ein Schmunzeln auf Jakobs Gesicht. Wie grotesk die Situation doch wäre, würde Mickey Mouse mit Pluto in den Merkur gehen, um sich Mars zu kaufen.
Jakob "parkte" sein Pferd auf einem Platz für Behinderte. Rundherum tummelten sich Menschen. Wesen, die sich auf der Jagd nach Essbarem befanden. Obwohl sie gar nicht so hungrig aussahen, eher so, als hätten sie zu viel Geld bei sich.
Jakob jedoch war hungrig. Sein Gehalt reichte gerade, um jedes Monat gut zu überstehen. Familie musste er ja nicht erdulden. Sein Auto war einem Pferd gewichen. Was billiger kam, würde der Kontoauszug am Ende des Monats schon verraten.
Doch momentan sorgte sich Jakob um seinen Magen.
Er mischte sich unter die Menschen, die sich durch die automatische Drehtüre bewegten - oder bewegen ließen. Jakob erschien dieses Ding seit es erbaut worden war nicht geheuer. Seine Phantasie malte sich immer wieder das Horrorszenario aus, was wohl passieren würde, würde die Drehtüre plötzlich Funken sprühen und wie ein Mixer die Menschen zerfleischen.
Doch heute schien sein Schicksal ihnen allen beizustehen. Unversehrt verließ Jakob die Drehtür und begab sich in den Innenraum des riesigen Gebäudes.
Es fanden sich hier zwei Geschäfte zusammen. Einerseits ein gewaltiges Möbelgeschäft, des die oberen zwei Stockwerke belegte, und andererseits Merkur, der im Untergeschoß eingebettet war.
Jakob war nicht interessiert an Möbeln. Seine Wohnung war zu voll, um noch etwas hinzufügen zu können. Und nichts kreischte nach einer Ersetzung.
Nach ein paar Schritten befand sich Jakob auf der Rolltreppe, die schräg nach unten führte und eine besonders langsame Fortbewegung für den faulen Mensch darstellte. Jakob beobachtete die riesige Halle, die sich über ihn erstreckte. Wäre dies in einem schlechten Computerspiel gewesen, hätte er sich vermutlich gelangweilt. Doch die Realität schien sogar an den alltäglichsten Orten noch einen Funken Interesse in Jakob zu entflammen. Man nahm gewisse Dinge einfach hin, weil man sie schon seit der Kindheit kennt. Stellt man sie plötzlich in Frage, erfahren sie eine ganz andere Bedeutung.
Er sah den Menschen zu, die sich ihre Einkaufswagen aus den gewaltigen stählernen Schlangen zogen und damit in dem Wald verschwanden, um auf Jagd zu gehen. Früher, dachte sich Jakob, stand hier wahrscheinlich wirklich ein Wald und vielleicht wurde sogar an genau derselben Position, wo die Erdanziehungskraft ihn an den Stahlgürtel unter sich sog, ein Tier erlegt, sei es mit Speer, Messer oder herkömmlichen Steinen.
Im rechten Abgrund befand sich ein kleines Restaurant, das zu Merkur gehörte (also ein Mond). Menschen arbeiteten darin, damit sie zu Hause essen erhielten und gleichzeitig um andere Personen zu sättigen. Für einen kurzen Augenblick glaubte Jakob, einen Jäger zu sehen, der seine Flinte auf einen vor sich hin vegetierenden Hasen richtete, abdrückte und seine Beute dem Restaurant als Spezialität überließ. Der Schuß jedoch riß Jakob wieder in die Realität - zumindest das, was sein Organismus als real empfand - zurück.
Wäre er gerannt, hätte er den Fuß der ebenen Treppe (ebene Treppe deshalb, damit Einkaufswagen es ebenfalls leichter hatten nach oben beziehungsweise nach unten zu gelangen) viel früher erreicht. Jakob sah seinen imaginären durchsichtigen Doppelgänger vor sich einen Wagen der Schlange entreißen, exakt fünf Sekunden bevor der reale Jakob dies tat. Sein Doppelgänger sah auf die Uhr, wartete auf Jakob und verschmolz schließlich wieder mit seinem Schöpfer.
Jakob fuhr seinen Wagen (für den er übrigens eine Münze entbehren hat müssen) durch Schranken, die sich zur Seite bewegten, sobald man einen unsichtbaren Lichtstrahl unterbrach. Auf den Schranken waren weiße Pfeile auf blauen Kreisen aufgedruckt, die Jakob endgültig daran zweifeln ließen, dass man keinen Führerschein für dieses Gefährt in diesem Übungsgelände benötigte.
Zuerst bewegte er sich an der Obstabteilung vorbei. Überall lag verschiedenstes Obst, eines exotischer, als das andere, und alle schienen sich nach ihrer mehrere tausend Kilometer entfernten Heimat zu sehnen, waren sie noch nicht tot.
Nein, Jakob wollte keine Früchte oder Gemüse. Nicht an diesem Tag. Normalerweise hatte er nichts gegen diese Seite der Ernährung, doch als sich plötzlich eine Kiste Äpfel in einen gewaltigen Apfelbaum verwandelten und ihm mit einer mannsgroßen Faust davon abriet, überlegte es sich Jakob anders. Er überließ die gesünderen Dinge anderen lebensmüden gleichgesinnter Wesen.
Eine Durchsage ertönte aus einem Lautsprecher, den nur die Techniker zu orten wissen würden. Irgend jemand solle sich bei einer Kassa blicken lassen.
Nicht das Problem von Jakob.
Er pirschte weiter, als die Ansage durch ein fürchterliches Scharren ihr Ende fand und kaltblütig in eine langweilige Melodie überging.
Jakob war nahe dem Gedanken, dass sich die halbe Welt auf Merkur eingefunden haben musste. Und alles nur wegen Familien, Mägen oder Frustessen.
Er bog nach rechts ab, da wo er ein hölzernes Schild an einem der vielen Baumstämme vermutete mit der Aufschrift "Süssigkeiten". Vielleicht brauchte sein Geist im Moment einfach nur die beruhigende Heilkraft einer wunderbaren Tafel Schokolade. Mickey Mouse riet ihm zu einem Mars - nein, zu dem Mars. Jakob schüttelte imaginär den Kopf und stieß Mickey von sich. Die Milchstraße sah verlockender aus.
Den MilkyWay-Riegel packte er in seine linke Manteltasche (seit wann hatte er den Mantel an? Er konnte sich nicht erinnern, den jemals angezogen zu haben) und erschrak, als er aufsah und auf das andere Ende der Abteilung blickte.
In der Lichtung die nach der Allee aus hohen Bäumen mit verschiedensten Leckereien begann stand eine Gestalt, die Jakob von oben bis unten musterte. Die Gestalt stand breitbeinig da, sein Hemd korrekt in seine schwarzen Jeans gesteckt und mit einem Gürtel darin festgehalten. Und starrte.
Jakob hielt in seiner Bewegung inne. Sein MilkyWay verlor er in den Tiefen seiner Tasche und seine Hände ballten sich zu Fäusten, nicht, um sich einem Gegner zu stellen, sondern weil ihm die Kälte auf diesem Planeten allmählich bewusst wurde - nicht wirklich ihm, eher nur seinem Organismus.
Der Gegner, so vermutete es Jakob zumindest, hielt seine Hände bereit, als wollten sie jeden Augenblick Pistolen aus Halterungen ziehen, auf Jakob richten und abdrücken. Doch keinerlei Waffe befand sich an den Seiten des vermeintlichen Gegners.
Der Wald um Jakob schien sich zusammenzuziehen, wie eine Schildkröte, die ihren Kopf in den Schutzbunker einsperrte. Jakob las etwas in den fremden furchterregenden Augen. Eine Mischung aus Neugierde und purer Wut. Auch eine gewisse Leere fand er dort auf.
"Frau Holster, bitte zur Kassa. Frau Holster, bitte." krächzte plötzlich ein schwarzer Rabe in der Baumkrone neben Jakob, und bevor der Kugelblitz, der aus den gestreckten - und beinahe verkrampften - Händen des fremden gegnerischen Zauberers auf Jakobs irdische Hülle zujagte, auf Jakob traf, drehte jemand an der Filmrolle und der Blitz blieb in der Luft stehen und blieb als Reflektion am Boden liegen.
"Können Sie nicht ein wenig auf ihre Bewegungen aufpassen, mein Herr?" rüttelte plötzlich eine etwas zu hohe weibliche Stimme an Jakobs Ohr.
Jakobs Stimmbänder warfen ihre Mahlzeiten weg, sprangen aus ihren Liegen und eilten auf ihren Arbeitsplatz zu.
Nach einem Räuspern antwortete Jakob: "Was meinen Sie?"
"Na, diese Sauerei." Die Frau in der grünen Uniform deutete auf den gewaltigen Fluß aus Mineral auf dem Boden, in dem sich die Neonröhrenlinie auf der Decke spiegelte und wie ein eingefrorenen Blitz wirkte.
Der Wald zuckte erneut auf, der Zauberer in der Lichtung brach zusammen und vereinigte seine Gestalt mit einem gewaltigen Turm aus Schokoladeprodukten.
"Es tut mir leid." sagte Jakob ehrlich und ließ die Frau alleine mit seinem Mißgeschick, das er sich jetzt noch nicht erklären konnte. Vielleicht war er gar nicht daran schuld gewesen, sondern irgend jemand vor ihm, der diese Abteilung im wahrsten Sinne des Wortes gekreuzt und Fahrerflucht mit seinem Wagen begangen hatte.
Irgend einen Schuldigen brauchte jedes Mißgeschick.
Jakobs Magen drohte mit einer gewaltigen Klage und einem hochbezahlten Anwalt, würde sich sein Besitzer nicht sofort um ihn kümmern.
Seine Stimmbänder lehnten sich wieder zurück und bemerkten vor ihrem Schlaf gerade noch, wie Jakob auf die Wurstabteilung zuging.
Vor ihm breitete sich eine Schlange ungeduldig aus, jedes einzelne Glied hatte Zähne und entweder hungrige Mägen oder gefüllte Geldbeutel oder beides. Jakob willigte ein, einen neuen Schwanz des Tieres zu bilden.
Hinter der Glasmauer, die anscheinend lebendig begrabene Tiere enthielt, tummelten sich wieder Gestalten, die Essen austeilten und gleichzeitig Essen erhielten.
Endlich war Jakob der Kopf der Schlange - und auch seit einiger Zeit nicht mehr der Schwanz.
Die Bedienung - ein gutaussehender junger Mann um die dreißig - begrüßte Jakob und schien ihm die Hand mit seinem breiten Lächeln zu schütteln. "Was darf es denn sein, mein Herr?"
Was es sein durfte war wohl nicht das richtige Prädikat, eher sollte es sein, und das sofort. "Eine Wurstsemmel bitte." Seine Stimmbänder wirkten überrascht und erzeugten einen leicht krächzenden Laut.
Nach dieser für den Verkäufer mehr als ungenügenden Bestellung musste sich Jakob einer gewaltigen Sturmflut an Angeboten stellen. Das war in Aktion, jenes war neu, anderes waren Reste und einige ließ der Verkäufer aus, vielleicht weil er Jakob für diese wenigen Dinge nicht für würdig genug betrachtete.
"Diese." Jakob deutete auf irgend etwas in dieser vom Tod umkreisten Vitrine.
"Wie Sie wünschen." grinste der Verkäufer weiter und machte sich - noch immer grinsend, beinahe schon spöttisch - an seine Arbeit.
Eigentlich wünschte es sich nicht Jakob, sondern sein arbeitseifriger Verdauer. Doch er wollte den Verkäufer nicht noch weiter nerven.
Der Diener und Anbieter des Todes hinter der glasigen Wand legte das gefüllte und gewünschte (oder eher benötigte) Gebäck auf die kaum sichtbare Oberfläche in Brusthöhe. Gleich gefolgt von einem bedruckten Papier.
"Ich bräuchte Ihre Unterschrift, hier, hier und hier." Der Verkäufer toten Fleisches tippte mit dem plötzlich ins Geschehen tretenden Kugelschreiber auf die freien Stellen des Kaufvertrages und reichte ihn schließlich Jakob.
Schien neu zu sein, dachte Jakob. Er unterschrieb und köpfte die Schlange, die sogleich einen neuen Kopf bildete.
Sein Magen rief seinen Anwalt an, er solle sich keine Sorgen mehr machen, da er bald wieder zu arbeiten haben würde. Doch zuerst musste Jakob bezahlen.
Jakob wanderte durch künstliche Schneegebiete und künstliche, bunt bedruckte Zeitungswälder und befand sich schließlich am Ausgang des Waldes.
Jakob beschloß, sich der längsten Reihe anzuschließen. Mehrere Leute mit sicherlich tonnenschweren Einkaufswagen warteten darauf, endlich mit ihrem hart erworbenen Geld die Lebensmittel durch diesen Kontrollgang zu schleusen.
Eine junge Kassiererin arbeitete an dieser Kassa. Jakob betrachtete sie genauer. Ihre schwarzen Haare waren mindestens so traurig wie der Blick in ihrem Gesicht. Sie wünschte den Kunden ein schönes Wochenende, mit einer Stimme, die es nicht wirklich ernst meinte, aber ernst meinen musste, damit sie überlebte. Ihre Augen trafen nie auf die Gesichter der Jäger, meistens sah sie nur deren Beute, wie sie von ihren Händen automatisch über den roten Laser gezogen wurden. Ihre Lippen sprachen die von der Maschine errechneten Preise aus, sie streckte ihre Hand den Käufern entgegen, starrte auf die Geldbeutel (in denen der ganze Schweiß auf jeder einzelner Zahl der Scheine und Münzen zu sein schien, der die Bezahlung überhaupt erst möglich machte), steckte das Geld in ihre sich schwungvoll öffnende Kassa und gab Restgeld, sofern der Käufer nicht auf den Groschen genau (und mit zuviel Zeit) die Summe auf dem kleinen Computer über den Tisch reichte.
"Melissa" war auf dem kleinen grünen Kärtchen zu lesen, das sich über dem Herz der introvertierten Kassiererin an die Uniform drückte.
Melissa begrüßte Jakob wie eine Maschine, die Weihnachtsgrüße an alle in dem vorhandenen Adressbuch schickte.
Sie nahm die übertrieben verpackte Wurstsemmel und zog den darauf haftenden Beleg über den roten Laser. Mitten in der Bewegung griff Jakob nach ihrer Hand und hielt sie genau über dem Erkennungsgerät sanft zurück.
"Melissa, oder?" Jakobs Mitleid hatte sich in den Kontrollraum geschlichen und benutzte seine Stimme.
Melissa sah - wahrscheinlich seit einigen Stunden zum ersten Mal - auf und verlor ihren Blick in dem Antlitz, zu dem die Hand gehörte, die sie ... menschlich berührte.
Sie schien zu erwachen, wie ein Computer, der in eine Bildschirmschoner-Trance gefallen war und durch eine ruckartige Mausbewegung wieder ins Leben gerufen wurde.
Melissas Stimmbänder waren wohl ebenso aus der Übung, wie Jakob's vor ein paar Minuten. "Ja?" sagte sie zögernd und mit einem überraschenden Blick.
Der Waldrand verschwand, die Rolltreppe neben der Kassa wurde von einer virtuellen Schwärze verschluckt. Es existierten nur noch der Blick, die Berührung und die Stimmen.
"Meinen Sie nicht, dass sie schon genug Zeit hier verschwendet haben?" fragte Jakob.
Melissa sah ihn verwirrt an, doch nach wenigen Augenblicken zog ein gewisses Verständnis in ihre Gesichtszüge.
Noch immer hielt Jakob die zierliche Hand, die wiederum das Futter für Jakobs Haustier in sich trug.
Als hätte sie ihn tatsächlich verstanden und als würde sie diese Szene kennen und schon ewig erwartet haben, stand sie plötzlich auf, ließ die Essenz des Jakobmagens auf den Scanner fallen und stieg aus der Kabine.
Selbst erboste Rufe aus den hinteren Reihen prallten auf dem schwarzen Schutzschild ab. Wie bei einer Aufforderung zu einem Tanz hielt Jakob ihre Hand, ließ nicht los, umschloß sie fester.
Die Sonne schien sich am Horizont blicken zu lassen, obwohl für die Jäger weder Horizont noch irgendwelche Planeten zu sehen waren. Für Jakob und Melissa war es einfach da. Langsam bewegten sich die beiden auf einen sich nach oben bewegenden Hügel zu, ließen sich nicht von ihren Berührungen der Blicke und Händen abhalten, wurden wie Engel, die dem Himmel entgegenglitten, schräg in die Lüfte erhoben. Dann erhielten ihre Füße festen Boden und den Befehl, sich durch eine drehende Woge aus Blüten und Düften zu bewegen, und sofort danach erfassten ihre Augenwinkel einen blauen Himmel und die lebensspendenden Strahlen einer höheren Macht. Ein wieherndes Pferd mit gewaltigen weißen Flügeln wartete in der ebenso weißen Umgebung auf die beiden umschlungenen und gebannten Wesen, bis sie endlich aufsaßen und das Pferd Richtung Merkur, Pluto, Mars, der Milchstraße und der Sonne zu schweben begann.
Das Ende
Jakob - so sein Name, der ironischerweise an das Wort "Objekt" erinnerte, das exakt seinen derzeitigen Gefühlen über sich selbst glich - bemerkte einen tobenden Bären in den Augenwinkeln, der sich vor Schmerzen krümmte, nachdem ein - beinahe ungewollter - Schwerthieb ihm seinen rechten Oberarm zerschnitten hatte. Das Brüllen des Tieres klang in Jakobs Ohren zu real, als nur in seinen Gedanken zu existiert haben zu können. Aus dem Bär entwickelte sich plötzlich der braune Vorhang vor dem Fenster (das seit Wochen nach einer Reparatur schrie), der sich vom Wind in einen Tanz mitreißen ließ. Das Brüllen entstand direkt unter Jakob's dicken Pullover, der nicht einmal in diesem Büro gegen die sture Kälte schützte. Er hatte Hunger. Ein ziemlich reales Gefühl, der ihn daran erinnerte, doch noch am Leben zu sein.
Nach einem enttäuschtem Blick auf die Uhr (noch zu lange würde er in seinem Büro sitzen und warten müssen) und einem weiteren überforderten Blick zu dem riesigen unerledigtem Stoß stand er schließlich auf.
Er marschierte ein paar Runden in dem vier Zimmer kleinen Büro, überlegte hin und her. Als sich sein Magen wieder entnervt zu Wort meldete lenkte Jakob in Richtung Kühlschrank, der sich inmitten der kleinen Küche befand. Leer. Zumindest für seinen Magen war nichts vorhanden. Lediglich Klebstoffe verschiedenster Art mit wirren Bezeichnungen befanden sich gut gekühlt innerhalb des Winterkastens, obwohl es außerhalb sicherlich auch gereicht hätte bei dieser Kälte, dachte Jakob.
Nach dieser weiteren Enttäuschung schloß er die schwere Kühlschranktür. Wieder protestierte sein Magen ungeduldig gegen die Leere in sich.
Jakob wollte schreien. Irgendwo dagegen treten. Wie lange war er schon hier tätig? Zehn Jahre? Zwanzig? Seine Falten im Gesicht - wie Ringe in einem umgestürzten Baum - würden ihm vielleicht verraten, wie lange er hier schon ausharrte, hätte man diesem Büro einen Spiegel zur Verfügung gestellt.
Das Telefon schrie auf.
Jakob konnte nicht anders reagieren, als mit einem lauten Fluch, der die Erde erzittern ließ. Mit einem Satz landete er auf seinem Schreibtisch und stieß mit seinem rechten Fuß gegen das nervende Ding. Wenige Augenblicke später bog sich der Vorhang durch ein großes Loch in der Scheibe und das Telefon flog in die Kälte (obwohl es wahrscheinlich nicht kälter als im Büro sein konnte) und ließ die Mülltonnen vor der Hausmauer scheppern.
Der Tisch knarzte unter Jakobs Gewicht. Hastig sprang er herunter, kurz bevor der Tisch in sich zusammenbrach und den ordentlichen Arbeitsplatz mit allerlei pedantisch geordneter Büroutensilien in einen Müllhaufen verwandelte.
Er verließ das Büro. Es wurde allmählich Zeit, einen anderen Weg in seinem Leben einzuschlagen.
Und etwas zu essen.
Während er sein Büro verließ und die Tür nur hinter sich in den Rahmen warf, aber nicht absperrte, kreiste in seinem Kopf der Gedanke, ob eine sogenannte Midlife-crisis an seinem Gedankengang schuld sein könnte. Jedoch verscheuchte er diese absurde Denkerei wie eine lästige Mücke.
Hastig ließ er die Treppe hinter sich und öffnete die schwere Holztür, an deren Außenseite ein Hund und ein "Ich muß draußen bleiben!" auf einem schwarzen Schild abgebildet waren. Jakob wußte noch genau, wo er seinen Wagen geparkt hatte. Nämlich exakt am selben Platz, den er schon seit Jahrzehnten reserviert bekam.
Jedoch war weit und breit nichts von seinem Auto zu sehen, geschweige denn von denen der Mitarbeiter, die irgendwo in dem zurückgelassenen Gebäude ihr Dasein fristeten und für ihre Familien litten.
Statt dessen fror ein braunes Pferd in der zugeschneiten Straße, dort wo sein Vehikel hätte sich befinden sollen. Es atmete schwer. Wahrscheinlich schnitt dem armen Tier bereits die Kälte in seine Kehle.
Jakob war nicht einmal wirklich überrascht, sondern hielt nur eine Zehntelsekunde inne, ging aber sofort weiter und saß auf. Das Pferd schien ihn gewohnt zu sein, versuchte sich kein bißchen gegen Jakob zu wehren, wo doch der Anschein da war, dass sich beide Wesen noch nie gesehen hatten.
Gegenüber seines Bürogebäudes wuchs dasselbe Gebäude spiegelverkehrt aus dem Schnee. Der einzige Unterschied bestand in der Farbe - das eine Haus war weiß und das andere hellblau. Sonst waren sie sich absolut gleich.
Selbst das verwunderte Jakob nicht. Das Haus stand schon immer da.
Die Umgebung war vom Nebel verschluckt und gab die Sicht nur im Umkreis von wenigen Metern frei.
War er schon jemals geritten? Selbst wenn konnte Jakob sich nicht daran erinnern. Und doch ritt er los, als wäre Reiten sein liebstes Hobby.
Er ritt durch die Stadt, über breite Straßen und hinterließ verdutzte Gesichtsausdrücke (es gab nur wenige Reiter, die sich an Vorrangregeln hielten und zum Abbiegen die Hände ausstreckten).
Jakob mußte weit reiten um an sein Ziel zu gelangen - ein Supermarkt namens Merkur. Immer wieder zauberte der Name des Geschäftes ein Schmunzeln auf Jakobs Gesicht. Wie grotesk die Situation doch wäre, würde Mickey Mouse mit Pluto in den Merkur gehen, um sich Mars zu kaufen.
Jakob "parkte" sein Pferd auf einem Platz für Behinderte. Rundherum tummelten sich Menschen. Wesen, die sich auf der Jagd nach Essbarem befanden. Obwohl sie gar nicht so hungrig aussahen, eher so, als hätten sie zu viel Geld bei sich.
Jakob jedoch war hungrig. Sein Gehalt reichte gerade, um jedes Monat gut zu überstehen. Familie musste er ja nicht erdulden. Sein Auto war einem Pferd gewichen. Was billiger kam, würde der Kontoauszug am Ende des Monats schon verraten.
Doch momentan sorgte sich Jakob um seinen Magen.
Er mischte sich unter die Menschen, die sich durch die automatische Drehtüre bewegten - oder bewegen ließen. Jakob erschien dieses Ding seit es erbaut worden war nicht geheuer. Seine Phantasie malte sich immer wieder das Horrorszenario aus, was wohl passieren würde, würde die Drehtüre plötzlich Funken sprühen und wie ein Mixer die Menschen zerfleischen.
Doch heute schien sein Schicksal ihnen allen beizustehen. Unversehrt verließ Jakob die Drehtür und begab sich in den Innenraum des riesigen Gebäudes.
Es fanden sich hier zwei Geschäfte zusammen. Einerseits ein gewaltiges Möbelgeschäft, des die oberen zwei Stockwerke belegte, und andererseits Merkur, der im Untergeschoß eingebettet war.
Jakob war nicht interessiert an Möbeln. Seine Wohnung war zu voll, um noch etwas hinzufügen zu können. Und nichts kreischte nach einer Ersetzung.
Nach ein paar Schritten befand sich Jakob auf der Rolltreppe, die schräg nach unten führte und eine besonders langsame Fortbewegung für den faulen Mensch darstellte. Jakob beobachtete die riesige Halle, die sich über ihn erstreckte. Wäre dies in einem schlechten Computerspiel gewesen, hätte er sich vermutlich gelangweilt. Doch die Realität schien sogar an den alltäglichsten Orten noch einen Funken Interesse in Jakob zu entflammen. Man nahm gewisse Dinge einfach hin, weil man sie schon seit der Kindheit kennt. Stellt man sie plötzlich in Frage, erfahren sie eine ganz andere Bedeutung.
Er sah den Menschen zu, die sich ihre Einkaufswagen aus den gewaltigen stählernen Schlangen zogen und damit in dem Wald verschwanden, um auf Jagd zu gehen. Früher, dachte sich Jakob, stand hier wahrscheinlich wirklich ein Wald und vielleicht wurde sogar an genau derselben Position, wo die Erdanziehungskraft ihn an den Stahlgürtel unter sich sog, ein Tier erlegt, sei es mit Speer, Messer oder herkömmlichen Steinen.
Im rechten Abgrund befand sich ein kleines Restaurant, das zu Merkur gehörte (also ein Mond). Menschen arbeiteten darin, damit sie zu Hause essen erhielten und gleichzeitig um andere Personen zu sättigen. Für einen kurzen Augenblick glaubte Jakob, einen Jäger zu sehen, der seine Flinte auf einen vor sich hin vegetierenden Hasen richtete, abdrückte und seine Beute dem Restaurant als Spezialität überließ. Der Schuß jedoch riß Jakob wieder in die Realität - zumindest das, was sein Organismus als real empfand - zurück.
Wäre er gerannt, hätte er den Fuß der ebenen Treppe (ebene Treppe deshalb, damit Einkaufswagen es ebenfalls leichter hatten nach oben beziehungsweise nach unten zu gelangen) viel früher erreicht. Jakob sah seinen imaginären durchsichtigen Doppelgänger vor sich einen Wagen der Schlange entreißen, exakt fünf Sekunden bevor der reale Jakob dies tat. Sein Doppelgänger sah auf die Uhr, wartete auf Jakob und verschmolz schließlich wieder mit seinem Schöpfer.
Jakob fuhr seinen Wagen (für den er übrigens eine Münze entbehren hat müssen) durch Schranken, die sich zur Seite bewegten, sobald man einen unsichtbaren Lichtstrahl unterbrach. Auf den Schranken waren weiße Pfeile auf blauen Kreisen aufgedruckt, die Jakob endgültig daran zweifeln ließen, dass man keinen Führerschein für dieses Gefährt in diesem Übungsgelände benötigte.
Zuerst bewegte er sich an der Obstabteilung vorbei. Überall lag verschiedenstes Obst, eines exotischer, als das andere, und alle schienen sich nach ihrer mehrere tausend Kilometer entfernten Heimat zu sehnen, waren sie noch nicht tot.
Nein, Jakob wollte keine Früchte oder Gemüse. Nicht an diesem Tag. Normalerweise hatte er nichts gegen diese Seite der Ernährung, doch als sich plötzlich eine Kiste Äpfel in einen gewaltigen Apfelbaum verwandelten und ihm mit einer mannsgroßen Faust davon abriet, überlegte es sich Jakob anders. Er überließ die gesünderen Dinge anderen lebensmüden gleichgesinnter Wesen.
Eine Durchsage ertönte aus einem Lautsprecher, den nur die Techniker zu orten wissen würden. Irgend jemand solle sich bei einer Kassa blicken lassen.
Nicht das Problem von Jakob.
Er pirschte weiter, als die Ansage durch ein fürchterliches Scharren ihr Ende fand und kaltblütig in eine langweilige Melodie überging.
Jakob war nahe dem Gedanken, dass sich die halbe Welt auf Merkur eingefunden haben musste. Und alles nur wegen Familien, Mägen oder Frustessen.
Er bog nach rechts ab, da wo er ein hölzernes Schild an einem der vielen Baumstämme vermutete mit der Aufschrift "Süssigkeiten". Vielleicht brauchte sein Geist im Moment einfach nur die beruhigende Heilkraft einer wunderbaren Tafel Schokolade. Mickey Mouse riet ihm zu einem Mars - nein, zu dem Mars. Jakob schüttelte imaginär den Kopf und stieß Mickey von sich. Die Milchstraße sah verlockender aus.
Den MilkyWay-Riegel packte er in seine linke Manteltasche (seit wann hatte er den Mantel an? Er konnte sich nicht erinnern, den jemals angezogen zu haben) und erschrak, als er aufsah und auf das andere Ende der Abteilung blickte.
In der Lichtung die nach der Allee aus hohen Bäumen mit verschiedensten Leckereien begann stand eine Gestalt, die Jakob von oben bis unten musterte. Die Gestalt stand breitbeinig da, sein Hemd korrekt in seine schwarzen Jeans gesteckt und mit einem Gürtel darin festgehalten. Und starrte.
Jakob hielt in seiner Bewegung inne. Sein MilkyWay verlor er in den Tiefen seiner Tasche und seine Hände ballten sich zu Fäusten, nicht, um sich einem Gegner zu stellen, sondern weil ihm die Kälte auf diesem Planeten allmählich bewusst wurde - nicht wirklich ihm, eher nur seinem Organismus.
Der Gegner, so vermutete es Jakob zumindest, hielt seine Hände bereit, als wollten sie jeden Augenblick Pistolen aus Halterungen ziehen, auf Jakob richten und abdrücken. Doch keinerlei Waffe befand sich an den Seiten des vermeintlichen Gegners.
Der Wald um Jakob schien sich zusammenzuziehen, wie eine Schildkröte, die ihren Kopf in den Schutzbunker einsperrte. Jakob las etwas in den fremden furchterregenden Augen. Eine Mischung aus Neugierde und purer Wut. Auch eine gewisse Leere fand er dort auf.
"Frau Holster, bitte zur Kassa. Frau Holster, bitte." krächzte plötzlich ein schwarzer Rabe in der Baumkrone neben Jakob, und bevor der Kugelblitz, der aus den gestreckten - und beinahe verkrampften - Händen des fremden gegnerischen Zauberers auf Jakobs irdische Hülle zujagte, auf Jakob traf, drehte jemand an der Filmrolle und der Blitz blieb in der Luft stehen und blieb als Reflektion am Boden liegen.
"Können Sie nicht ein wenig auf ihre Bewegungen aufpassen, mein Herr?" rüttelte plötzlich eine etwas zu hohe weibliche Stimme an Jakobs Ohr.
Jakobs Stimmbänder warfen ihre Mahlzeiten weg, sprangen aus ihren Liegen und eilten auf ihren Arbeitsplatz zu.
Nach einem Räuspern antwortete Jakob: "Was meinen Sie?"
"Na, diese Sauerei." Die Frau in der grünen Uniform deutete auf den gewaltigen Fluß aus Mineral auf dem Boden, in dem sich die Neonröhrenlinie auf der Decke spiegelte und wie ein eingefrorenen Blitz wirkte.
Der Wald zuckte erneut auf, der Zauberer in der Lichtung brach zusammen und vereinigte seine Gestalt mit einem gewaltigen Turm aus Schokoladeprodukten.
"Es tut mir leid." sagte Jakob ehrlich und ließ die Frau alleine mit seinem Mißgeschick, das er sich jetzt noch nicht erklären konnte. Vielleicht war er gar nicht daran schuld gewesen, sondern irgend jemand vor ihm, der diese Abteilung im wahrsten Sinne des Wortes gekreuzt und Fahrerflucht mit seinem Wagen begangen hatte.
Irgend einen Schuldigen brauchte jedes Mißgeschick.
Jakobs Magen drohte mit einer gewaltigen Klage und einem hochbezahlten Anwalt, würde sich sein Besitzer nicht sofort um ihn kümmern.
Seine Stimmbänder lehnten sich wieder zurück und bemerkten vor ihrem Schlaf gerade noch, wie Jakob auf die Wurstabteilung zuging.
Vor ihm breitete sich eine Schlange ungeduldig aus, jedes einzelne Glied hatte Zähne und entweder hungrige Mägen oder gefüllte Geldbeutel oder beides. Jakob willigte ein, einen neuen Schwanz des Tieres zu bilden.
Hinter der Glasmauer, die anscheinend lebendig begrabene Tiere enthielt, tummelten sich wieder Gestalten, die Essen austeilten und gleichzeitig Essen erhielten.
Endlich war Jakob der Kopf der Schlange - und auch seit einiger Zeit nicht mehr der Schwanz.
Die Bedienung - ein gutaussehender junger Mann um die dreißig - begrüßte Jakob und schien ihm die Hand mit seinem breiten Lächeln zu schütteln. "Was darf es denn sein, mein Herr?"
Was es sein durfte war wohl nicht das richtige Prädikat, eher sollte es sein, und das sofort. "Eine Wurstsemmel bitte." Seine Stimmbänder wirkten überrascht und erzeugten einen leicht krächzenden Laut.
Nach dieser für den Verkäufer mehr als ungenügenden Bestellung musste sich Jakob einer gewaltigen Sturmflut an Angeboten stellen. Das war in Aktion, jenes war neu, anderes waren Reste und einige ließ der Verkäufer aus, vielleicht weil er Jakob für diese wenigen Dinge nicht für würdig genug betrachtete.
"Diese." Jakob deutete auf irgend etwas in dieser vom Tod umkreisten Vitrine.
"Wie Sie wünschen." grinste der Verkäufer weiter und machte sich - noch immer grinsend, beinahe schon spöttisch - an seine Arbeit.
Eigentlich wünschte es sich nicht Jakob, sondern sein arbeitseifriger Verdauer. Doch er wollte den Verkäufer nicht noch weiter nerven.
Der Diener und Anbieter des Todes hinter der glasigen Wand legte das gefüllte und gewünschte (oder eher benötigte) Gebäck auf die kaum sichtbare Oberfläche in Brusthöhe. Gleich gefolgt von einem bedruckten Papier.
"Ich bräuchte Ihre Unterschrift, hier, hier und hier." Der Verkäufer toten Fleisches tippte mit dem plötzlich ins Geschehen tretenden Kugelschreiber auf die freien Stellen des Kaufvertrages und reichte ihn schließlich Jakob.
Schien neu zu sein, dachte Jakob. Er unterschrieb und köpfte die Schlange, die sogleich einen neuen Kopf bildete.
Sein Magen rief seinen Anwalt an, er solle sich keine Sorgen mehr machen, da er bald wieder zu arbeiten haben würde. Doch zuerst musste Jakob bezahlen.
Jakob wanderte durch künstliche Schneegebiete und künstliche, bunt bedruckte Zeitungswälder und befand sich schließlich am Ausgang des Waldes.
Jakob beschloß, sich der längsten Reihe anzuschließen. Mehrere Leute mit sicherlich tonnenschweren Einkaufswagen warteten darauf, endlich mit ihrem hart erworbenen Geld die Lebensmittel durch diesen Kontrollgang zu schleusen.
Eine junge Kassiererin arbeitete an dieser Kassa. Jakob betrachtete sie genauer. Ihre schwarzen Haare waren mindestens so traurig wie der Blick in ihrem Gesicht. Sie wünschte den Kunden ein schönes Wochenende, mit einer Stimme, die es nicht wirklich ernst meinte, aber ernst meinen musste, damit sie überlebte. Ihre Augen trafen nie auf die Gesichter der Jäger, meistens sah sie nur deren Beute, wie sie von ihren Händen automatisch über den roten Laser gezogen wurden. Ihre Lippen sprachen die von der Maschine errechneten Preise aus, sie streckte ihre Hand den Käufern entgegen, starrte auf die Geldbeutel (in denen der ganze Schweiß auf jeder einzelner Zahl der Scheine und Münzen zu sein schien, der die Bezahlung überhaupt erst möglich machte), steckte das Geld in ihre sich schwungvoll öffnende Kassa und gab Restgeld, sofern der Käufer nicht auf den Groschen genau (und mit zuviel Zeit) die Summe auf dem kleinen Computer über den Tisch reichte.
"Melissa" war auf dem kleinen grünen Kärtchen zu lesen, das sich über dem Herz der introvertierten Kassiererin an die Uniform drückte.
Melissa begrüßte Jakob wie eine Maschine, die Weihnachtsgrüße an alle in dem vorhandenen Adressbuch schickte.
Sie nahm die übertrieben verpackte Wurstsemmel und zog den darauf haftenden Beleg über den roten Laser. Mitten in der Bewegung griff Jakob nach ihrer Hand und hielt sie genau über dem Erkennungsgerät sanft zurück.
"Melissa, oder?" Jakobs Mitleid hatte sich in den Kontrollraum geschlichen und benutzte seine Stimme.
Melissa sah - wahrscheinlich seit einigen Stunden zum ersten Mal - auf und verlor ihren Blick in dem Antlitz, zu dem die Hand gehörte, die sie ... menschlich berührte.
Sie schien zu erwachen, wie ein Computer, der in eine Bildschirmschoner-Trance gefallen war und durch eine ruckartige Mausbewegung wieder ins Leben gerufen wurde.
Melissas Stimmbänder waren wohl ebenso aus der Übung, wie Jakob's vor ein paar Minuten. "Ja?" sagte sie zögernd und mit einem überraschenden Blick.
Der Waldrand verschwand, die Rolltreppe neben der Kassa wurde von einer virtuellen Schwärze verschluckt. Es existierten nur noch der Blick, die Berührung und die Stimmen.
"Meinen Sie nicht, dass sie schon genug Zeit hier verschwendet haben?" fragte Jakob.
Melissa sah ihn verwirrt an, doch nach wenigen Augenblicken zog ein gewisses Verständnis in ihre Gesichtszüge.
Noch immer hielt Jakob die zierliche Hand, die wiederum das Futter für Jakobs Haustier in sich trug.
Als hätte sie ihn tatsächlich verstanden und als würde sie diese Szene kennen und schon ewig erwartet haben, stand sie plötzlich auf, ließ die Essenz des Jakobmagens auf den Scanner fallen und stieg aus der Kabine.
Selbst erboste Rufe aus den hinteren Reihen prallten auf dem schwarzen Schutzschild ab. Wie bei einer Aufforderung zu einem Tanz hielt Jakob ihre Hand, ließ nicht los, umschloß sie fester.
Die Sonne schien sich am Horizont blicken zu lassen, obwohl für die Jäger weder Horizont noch irgendwelche Planeten zu sehen waren. Für Jakob und Melissa war es einfach da. Langsam bewegten sich die beiden auf einen sich nach oben bewegenden Hügel zu, ließen sich nicht von ihren Berührungen der Blicke und Händen abhalten, wurden wie Engel, die dem Himmel entgegenglitten, schräg in die Lüfte erhoben. Dann erhielten ihre Füße festen Boden und den Befehl, sich durch eine drehende Woge aus Blüten und Düften zu bewegen, und sofort danach erfassten ihre Augenwinkel einen blauen Himmel und die lebensspendenden Strahlen einer höheren Macht. Ein wieherndes Pferd mit gewaltigen weißen Flügeln wartete in der ebenso weißen Umgebung auf die beiden umschlungenen und gebannten Wesen, bis sie endlich aufsaßen und das Pferd Richtung Merkur, Pluto, Mars, der Milchstraße und der Sonne zu schweben begann.
Das Ende